Eigentlich hätte mir dieser Fehler als Kartograph nicht passieren dürfen, aber er ist passiert, ist mir passiert. Ich habe die Karte falsch gelesen und bin von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Ich dachte, ja, ich dachte, das können Menschen nämlich auch! Also ich dachte, der Abzweig wäre der Abzweig, der mit dem Schild. Iris sagte: „Ja, da steht ein Schild.“ Okay! Es war aber nicht der Abzweig, den ich meinte, der war auf der Karte nämlich nicht eingezeichnet. Ich wunderte mich zwar, aber … Menschen sind nicht perfekt und machen Fehler. Aber aus Fehlern kann man lernen. Die Frage ist nur, ob man dazu bereit ist. Das Leben ist ein großes Lernfeld und die Natur ist der beste Lehrmeister.
Und nun zu meiner Lerngeschichte:
Es war 10:30 Uhr als die beiden Frauen Iris und Brigitte an diesem Tage zu einer Wanderung in die Berge aufbrachen. Zunächst stand die Touristenhütte Sulebu auf dem Programm, dann sollte es quer über das Hochplateau und um den Tenlefjord-See gehen und zum Schluss wollten sie über den Hüttenweg wieder zurückgehen. Die Rücksäcke waren gepackt und Andor, der Hund wartete schon voller Ungeduld auf den Spaziergang. Der Wetterbericht war verheißungsvoll und so zogen sie los. Nach ein paar hundert Metern bemerkten sie, dass über einen der Berge eine dunkle Wolkenwand hinüberzog. Die Wolke hätte ihnen zur Warnung dienen sollen, aber Brigitte sagte leichthin: „Och, die zieht schon in die andere Richtung, der Wetterbericht war doch gut.“ Eigentlich hatte sie ja auch meistens Glück gehabt mit dem Wetter, warum also heute nicht?
Fröhlich gingen sie also weiter und ließen nach ca. 2 Kilometern die letzten Behausungen zurück. Nun ging es bergan. Der Weg wurde zum Pfad und sie mussten einige kleine Bäche und ein paar sumpfige Stellen überqueren. Das ging ohne Probleme. Dann fing es leicht an zu regnen. „Na ja, ein kurzer Schauer, wir haben ja unsere Regenjacken dabei. Es ist somit kein Problem.“
Nun wurde den Pfad steiler und sie kamen an die Stelle, wo Brigitte zwei Tage zuvor gewesen war. Dann erreichten sie das erste Sumpfgebiet. Der Weg war total matschig und teilweise überflutet. Iris suchte nach einem Weg um den Sumpf. Sie kamen über eine Wiese mit wunderschönem Wollgras. Dann wurde der Regen stärker und der Weg steiler. Es ging immer höher hinauf. Brigitte wunderte sich, dass es so weit bis zu den Sulebu-Hütten war und hoffte nach jeder Wegbiegung, diese sehen zu können. So langsam kam ihr die Erkenntnis, dass sie sich geirrt haben musste, als sie Iris auf der Karte gezeigt hatte, wie weit sie vor zwei Tagen gelaufen war. Nun war es zu spät. Mit Grauen dachte sie an den Abstieg, denn sie hatte mit dem einem Abstieg voller Stufen immer Probleme gehabt, da sie als Kind einmal mit einem vollen Tablett in der Hand die Treppe hinab gefallen war. Wenn sie ihre Wanderstöcke dabeigehabt hätte, wäre es besser gewesen, aber wenn und hätte nutzten ihr jetzt nichts. Sie musste den Aufstieg wohl oder übel schaffen. Ab den Touristenhütten würde es ja leichter gehen.
Als die Gefährtinnen kurz stehen blieben, sagte Brigitte: „Siehst Du die Tiere dort drüben. Was sind das für welche. Schafe können es nicht sein, die haben nicht so lange und dünne Beine.“ „Oh, das sind Rentiere. Sieh mal, wie schnell die laufen können.“
Der Regen wurde stärker und immer noch ging es weiter bergauf. Brigittes Kräfte ließen nach. Iris und Andor hatten andere Probleme. Andor hatte ein paar Fährten in die Nase bekommen und wollte jagen gehen. Iris hatte alle Hände voll zu tun, ihn davon abzuhalten. Dann setzte sich ein Schneehuhn nur ein paar Meter von Andor entfernt neben den Weg. Es schien den Hund auszulachen, denn sein Gezwitscher war sehr provozierend. „Ätsch, es ist keine Jagdzeit! Du darfst mich nicht jagen. Ätsch, es ist keine …“
Andor fand das gar nicht lustig. „Dieser Vogel, ich will jagen gehen!“
So kämpfte jeder mit seinen eigenen Problemen. Dann sagte Brigitte zu Iris: „Iris, ich kann bald nicht mehr, mir ist kalt und ich bin müde. Wenn die Hütten nicht bald ins Blickfeld kommen, möchte ich lieber umkehren. Würdest Du bitte voraus gehen und nachschauen?“
Nun gingen Iris und der Hund voraus und Brigitte kam mühsam hinterher. Der Regen wurde stärker und es kam ein eiskalter Wind auf. Brigittes Oberschenkel fingen an zu schmerzen. Hoffentlich bekam sie keinen Krampf. Wie sollte sie dann zu den Hütten und wieder zurück kommen? Durch den starken Wind, der stetig von rechts gegen sie blies, ließ sie die Nässe als noch kälter empfinden. Insbesondere der rechte Schenkel fühlte sich eiskalt an, wie halb erfroren. Außerdem hatte sie den rechten Fuß nass, da sie in ein Wasserloch getreten war. Der Wind blies ihr auch ins Gesicht und die Regentropfen wurden zu eisigen Speerspitzen. Sie schaute nach ihrer Gefährtin aus, konnte sie aber nicht entdecken. War Iris schon in der Hütte und wärmte sich auf? Wartete sie dort auf sie? Brigitte nahm ihre letzten Kräfte zusammen, um so schnell als möglich zu den Hütten zu kommen. Nur ins Warme und Trockene kommen! Warm und trocken, warm und trocken, Brigitte konnte kaum an etwas anderes mehr denken. Wo war Iris nur? Sie fühlte sich alleine gelassen in der Wildnis. Hatte Iris sie im Stich gelassen? Warm und trocken. Das sah Iris doch gar nicht ähnlich. Warm und trocken, schnell zu den Hütten!
„Brigitte!“
Brigitte, von wo kam der Ruf? Die Frau konnte ihre Kameradin vor ihr nicht entdecken. Wo war sie denn bloß? Der Ruf kam von hinten, das konnte doch nicht sein?!?
Brigitte drehte sich um und sah Jemanden, der eine rote Jacke trug und einen Hund an der Leine hielt. Iris, da war sie, aber wie kam sie hinter sie???
Brigitte blieb stehen und Iris kam schnell heran. „Was hast Du Dir bloß dabei gedacht? Warum bist Du nicht stehen geblieben, wie es üblich ist, wenn man einen vorschickt. Du kennst doch die Bergregeln. Man hat da stehen zu bleiben und zu warten!!! Ich bin echt sauer, ich habe mir Sorgen gemacht. Du weißt doch immer alles. Wenn wir dir etwas erklärt haben, hast Du immer gesagt, dass Du das alles weißt. Ich bin extra eine Abkürzung gegangen, um schneller bei Dir zu sein, und du bist nicht dagewesen. Ich bin stinksauer!!!“
Brigitte war wie vom Donner gerührt. Abkürzung, wo in alles in der Welt gab es hier eine Abkürzung? Hilfe! War das jetzt das Ende des schönen Urlaubs? Warum hatte sie nur… Ging Iris nun ohne sie weiter und ließ sie alleine? Warum…? „Oh, Gott, hilf mir bitte!“ Mühsam, die letzten Kräfte zusammennehmend und voller Schuldgefühle schleppte sie sich bis zu der Schutzhütte. Hoffentlich war diese offen. „Bitte, bitte, ich möchte es warm und trocken haben und in Ruhe mit Iris sprechen. Wie konnte mir nur dieser Fehler passieren?“
Die Hütte war zwar unverschlossen, aber Iris durfte mit Andor nicht hinein. Norwegen ist kein hundefreundliches Land, es gelten strenge Regeln. Da die beiden anderen Wanderer den Hund nicht in ihrer Nähe haben wollten, musste Iris mit ihm draußen in der Kälte bleiben. Das trug nicht gerade zur Verbesserung der Stimmung bei. Brigitte fühlte sich noch schlechter, obwohl sie hierfür nicht konnte. Traurig setzte sie sich an einer der Tische. Der Appetit war ihr zwar total vergangen, aber sie wusste, dass sie etwas zu sich nehmen musste, da sie sonst den Rückweg nicht schaffen konnte. Die Frikadelle, die Iris ihr brachte, konnte sie aber nicht essen, schon beim Anblick wurde ihr übel. Sie suchte in ihrem Rucksack nach ihren Kniestrümpfen, um die nassen Socken ausziehen zu können. Dabei stellte sie fest, dass der Rucksack nicht dicht gewesen war und die Sachen darin zum Teil feucht waren. Auch die ihr als regendicht verkaufte Jacke, war nur regenabweisend und die Weste darunter war ebenfalls feucht. Trotz der Wärme in der Hütte begann sie zu frieren. Sie fühlte sich so elend. „Gott, hilf mir bitte. Ich brauche Deine Hilfe so dringend. Was soll ich nur tun. Könntest Du bitte den Regen abstellen? Wie soll ich nur nach Hause kommen?“
Die Angst griff ihr an Herz. Sie fühlte sich so hilflos. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken oder hätte sich einfach in Luft aufgelöst. Wie konnten ihr nur so viele Fehler passieren? Sie war doch schon so oft in den Bergen gewesen, in den Alpen, den Rocky Mountains, der High Sierra, aber so wie hier, so war es nirgends. Sie war doch nicht so viel höher als vor ein paar Tagen. Die Hochebene lag doch „nur“ auf ca. 1300 Metern. Sie war völlig verwirrt. Langsam kam sie zu der Erkenntnis, dass die Verhältnisse auf 1300 m Höhe in diesen Breitengraden (Die Hochebene liegt auf ca. 61° nördlicher Breite.) denen von ca. 2500m der südlichen Rocky Mountains, bzw. der Alpen entsprechen.
Iris klopfte ans Fenster und forderte sie auf, nach draußen zu kommen. Brigitte musste die warme und schützende Hütte verlassen. Sie fürchtete sich vor der Reaktion ihrer Begleiterin. Obwohl es aufgehört hatte zu regnen, schlotterte sie vor Kälte am ganzen Leibe. Die Kälte drang bis zur Haut vor. Sie entschuldigte sich zerknirscht bei Iris und fing an zu weinen. Teils vor Kälte, teils wegen des schlechten Gewissens. Sie war völlig fertig.
Dann gab Iris ihr einen ihrer eigenen Pullover, der trocken war. Dankbar zog Brigitte diesen an. Sie sprachen über die Schwierigkeiten und alle Unklarheiten wurden beseitigt. Sie umarmten sich und vergaben einander.
Der Rückweg wurde zu einer besonderen Freude. Er wurde zu einer der schönsten Erfahrungen, die Brigitte je gemacht hatte. Obwohl sie Schuld an der Misere war, war ihr vergeben worden. Sie fühlte sich frei und leicht wie eine Feder. Leider war die Feder für eine Stelle des „Weges“ doch zu schwer. Iris hatte ihr geraten, die schlammigen Stellen möglichst zu umgehen und auf Vegetation zu treten. Diesen Rat beherzigte Brigitte auch und setzte ihren Fuß auf eine von Moosen und Zweigen überwucherte Stelle und – versank dabei bis zur Hälfte der Wade im Schlamm. Als sie den Fuß wieder aus dem Loch zog, war ihr Schuh von einer brauen Schlammschicht überzogen. Sie bückte sich, um wenigstens einen Teil des Schlamms und einen kleinen Ast aus dem Schuh zu entfernen. Auch diese Aktion löste bei den Frauen Heiterkeit aus. Während des Rückweges wurde immer wieder darüber gelacht und die Natur, die sich jetzt freundlicher zeigte, konnten sie nun umso mehr genießen.
Seit diesem Abenteuer ist das Verhältnis zwischen den beiden Frauen noch inniger geworden.