Dark Tourism: Zwischen Erinnerung, Ethik und Geschäft
Katastrophen, Kriege und Tragödien prägen die kollektive Erinnerung ganzer Generationen. Dass sie zugleich Anziehungspunkte für Touristinnen und Touristen aus aller Welt sind, mag auf den ersten Blick befremdlich wirken.
Doch genau darin liegt das Phänomen des „Dark Tourism“ – der Reise zu Orten des Leids, des Todes und der historischen Katastrophe. In einer Welt, in der Geschichte immer sichtbarer inszeniert und konsumiert wird, stellt sich die Frage: Wo endet Gedenken, und wo beginnt Geschäft?
Der Begriff „Dark Tourism“ und seine Facetten
Der Ausdruck „Dark Tourism“, auch als „Thanatourismus“ bezeichnet, wurde in den 1990er-Jahren akademisch geprägt. Er umfasst das Phänomen, dass Menschen gezielt Orte aufsuchen, an denen sich tragische Ereignisse ereigneten – von Schlachtfeldern über KZ-Gedenkstätten bis zu Tatorten oder Katastrophenregionen. Es geht nicht um Erholung, sondern um Konfrontation mit dem Dunklen, dem Tod, dem Unerklärlichen.
Eine der grundlegenden Fragen in diesem Kontext ist, was die Menschen zu solchen Reisen bewegt. Die Spannbreite reicht von Bildungsinteresse und historischem Bewusstsein bis hin zu voyeuristischer Neugier oder gar einer makabren Faszination für das Grauen. Manche Besucher suchen eine tiefere emotionale Verbindung, andere inszenieren sich vor ikonischen Kulissen für soziale Medien.
Fallbeispiel Hiroshima: Die Katastrophe als Tourismusmagnet
Ein aktuelles Beispiel verdeutlicht die Ambivalenz des Dark Tourism besonders eindrucksvoll: die japanische Stadt Hiroshima. Achtzig Jahre nach dem Abwurf der Atombombe hat sich Hiroshima zu einem weltbekannten Ziel für Gedenktourismus entwickelt. Die Stadt „verdient gut“ an ihrer Vergangenheit – so lautet sinngemäß die Aussage eines aktuellen Berichts.
Der Atombombendom, die Friedensgedenkhalle, das Museum mit seinen erschütternden Exponaten – sie alle ziehen jährlich Millionen Menschen an. Viele von ihnen kommen, um zu trauern, zu lernen, zu erinnern. Doch zugleich boomt die lokale Wirtschaft: Hotels, Souvenirläden, Führungen und Gastronomie profitieren vom internationalen Interesse. Dabei stellt sich die ethische Frage: Ist es legitim, dass eine Stadt aus ihrem größten Leid Kapital schlägt?
„Ohne die Bombe wäre Hiroshima wahrscheinlich ein unbedeutender Ort geblieben. Heute kommen Menschen aus aller Welt – nicht nur zum Gedenken, sondern auch aus Neugier“, sagt ein lokaler Museumsführer.
Die Stadt selbst versucht, dieser Spannung mit Respekt zu begegnen. Sie sieht sich als Mahnerin für den Frieden, als Botschafterin für nukleare Abrüstung. Doch die Vermarktung von Trauerorten bleibt ein Balanceakt.
Weltweite Hotspots des Dark Tourism
Hiroshima ist kein Einzelfall. Rund um den Globus haben sich Orte des Schreckens zu touristischen Magneten entwickelt:
- Auschwitz-Birkenau: Die Gedenkstätte in Polen ist eine der bekanntesten ihrer Art. Trotz klarer Verhaltensregeln kommt es immer wieder zu unangemessenen Selfies oder respektlosen Kommentaren. Die Verantwortlichen warnen vor einem „Verlust des kollektiven Ernstes“.
- Tschernobyl: Nach der erfolgreichen TV-Serie strömten tausende Touristen in die Sperrzone. Veranstalter bieten geführte Touren, die teils an Abenteuersafaris erinnern. „Es ist wie ein postapokalyptischer Freizeitpark“, schrieb eine Reisende in ihrem Blog.
- Ground Zero, New York: Der Ort der Terroranschläge vom 11. September ist heute ein Ort der Erinnerung – aber auch ein kommerziell genutzter Raum mit Shops, Tickets und Merchandise.
- Jonestown, Guyana: Der Ort des Massensuizids von 1978 steht exemplarisch für das Interesse am Makabren. Guyanas Regierung prüft Pläne, das Gelände touristisch zu erschließen. Kritiker sprechen von „Gräberprofiteuren“.
- Morwell, Australien: Nach einer regionalen True-Crime-Serie pilgerten Touristen zu Tatorten der sogenannten „Pilz-Morde“. Bewohner beklagen Belästigungen und mediale Übergriffigkeit. Die Gemeinde fordert Einschränkungen.
Was zieht Menschen zu Orten des Schreckens?
Die Motivationen von Dark Tourists sind vielfältig. Manche suchen Bewältigung, Bildung oder emotionale Berührung. Andere wollen ihre eigenen Ängste konfrontieren oder schlicht ihre Neugier befriedigen. Die Sozialpsychologin Erika Kowalski beschreibt das Phänomen als „eine Form der Selbstvergewisserung durch Nähe zur Katastrophe“.
Ein zunehmender Faktor ist die Rolle sozialer Medien. Instagram, TikTok und YouTube befeuern den Trend, sich an außergewöhnlichen – auch tragischen – Orten zu inszenieren. Das Phänomen des „Insta-Tourismus“ ist längst auch im Bereich des Dark Tourism angekommen. Hashtags wie #darktourism oder #disastertour sind millionenfach geklickt. Das Problem: Der pietätvolle Umgang gerät zunehmend unter Druck.
„Jede Generation findet ihren Zugang zur Geschichte. Aber das Smartphone macht aus Gedenkstätten manchmal Bühnen der Eitelkeit“, warnt der Kulturhistoriker Martin Klages.
Ethik und Kritik: Wo liegt die Grenze?
Dark Tourism bewegt sich stets im Spannungsfeld zwischen Erinnerungskultur und Kommerz. Während viele Veranstalter bemüht sind, Wissen zu vermitteln und respektvoll aufzuklären, gibt es auch Fälle von Ausbeutung, Überinszenierung und Entgrenzung.
Ein besonders kritischer Punkt ist die Perspektive der Betroffenen. Angehörige von Opfern, Bewohner tragischer Orte oder lokale Communities empfinden den Ansturm oft als belastend. In Morwell etwa haben sich Bewohner gegen den „Mord-Tourismus“ gewehrt. „Wir leben hier, wir trauern hier – und draußen stehen Selfiesticks“, klagt eine Anwohnerin.
Auch das Verhältnis von Geschichte und Markt ist komplex. Die Frage, wer wie an welchem Leid verdient, ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine moralische. Gedenkstätten stehen vor dem Dilemma, auf Einnahmen angewiesen zu sein, ohne ihre Würde zu verlieren. Historiker fordern deshalb Ethikrichtlinien, Partizipation der Betroffenen und Bildungsprogramme mit Tiefgang.
Trends und Entwicklungen im Dark Tourism
Der Markt für Dark Tourism wächst. Studien zeigen, dass insbesondere jüngere Reisende ein starkes Interesse an authentischen, emotional tiefgehenden Reiseerfahrungen haben. Dabei spielt Technologie eine zunehmend wichtige Rolle:
- Virtuelle Realität (VR) ermöglicht es, historische Ereignisse immersiv zu erleben – etwa den Moment des Bombenabwurfs über Hiroshima oder den Alltag in einem Konzentrationslager.
- Augmented Reality (AR) wird an Gedenkstätten eingesetzt, um Informationen, Zeitzeugenberichte und Rekonstruktionen direkt vor Ort einzublenden.
- Dark Wellness ist ein neuer Trend: Orte der Trauer und des Gedenkens werden als Räume der Sinnsuche und Heilung entdeckt, etwa bei meditativen Gedenkwanderungen oder stillen Rückzugsangeboten an historischen Orten.
Hinzu kommt eine regionale Diversifikation. Neben den bekannten europäischen und amerikanischen Stätten rücken zunehmend Orte in Asien, Afrika und Osteuropa in den Fokus. Kasachstan etwa entwickelt ehemalige Gulag-Lager wie Karlag oder Alzhir zu Bildungsorten, auch in Vietnam und Südafrika entstehen neue Projekte, die die dunkle Geschichte aufarbeiten – mit lokalem Bezug und globalem Anspruch.
Zwischen Mahnung und Markt
Dark Tourism ist ein Spiegel unserer Gesellschaft: Er offenbart, wie wir mit Vergangenheit umgehen, wie wir Leid verarbeiten – und wie wir mit Geschichte Geld verdienen. Die Faszination des Dunklen ist ungebrochen, doch sie stellt uns auch vor Herausforderungen: Wie gelingt der Spagat zwischen Erinnerung und Entertainment? Wie schützt man Würde inmitten von Klicks und Konsum?
Die Zukunft des Dark Tourism wird davon abhängen, ob es gelingt, Empathie, Bildung und Respekt miteinander zu verbinden. Denn nur dann kann aus der Reise in das Dunkel auch ein Weg zu mehr Licht werden.